DIE ZEIT
Kinder können mehr
Krippenkinder unter drei wandern mehr als sechs Stunden
durch den Wald und beweisen neben Ausdauer großen Forscherwillen. Werden
die Kleinen unterschätzt?
Von Reinhard Kahl
Am Dienstag nach Pfingsten ist in Hamburg ein Wetter zum
Zuhausebleiben. Es schüttet, donnert, blitzt, aber der Ausflug ist lange
geplant und so packt morgens um acht Torsten Lübke, der Leiter der Kinderkrippe
Tornquiststraße in Hamburg-Eimsbüttel den weißen Bus der Kita
mit vielen kleinen Rucksäcken und der Verpflegung für drei Tage. Für
die meisten Kinder wird das die bislang längste Trennung von den Eltern werden.
Manche haben noch nie woanders geschlafen, nicht mal bei der Oma.
Mit zehn Kindern geht es für drei Tage über die Elbe in die Schwarzen
Berge bei Harburg, in ein Fachwerkhaus eines Turnvereins mitten im Wald. Der Wald
wird erkundet, Seifenblasen werden gepustet und dergleichen schöne Dinge
mehr gemacht. Karla-Lucia, die Jüngste in der Reisegruppe ist gerade mal
18 Monate alt. Nike, der Senior, bringt es auf das Doppelte. Seine drei Jahre
entsprechen genau dem Alter, mit dem Kinder in Deutschland sonst in den Kindergarten
kommen.
Am zweiten Tag scheint die Sonne. Nach einer Nacht ohne Heimweh und Geschrei müssen
nach dem Frühstück einige noch gewickelt werden, dann machen sich die
Pädagogen mit den Kindern um 9 Uhr 40 zu einer Wanderung auf. Quer durch
den Wald zum Tierpark. Für Erwachsene ein Weg von einer guten halben Stunde.
Die Kinder brauchen natürlich länger. Nicht wegen ihrer kurzen Beinchen,
sondern weil für sie jede Pfütze eine Einladung ist. Baumrinden werden
untersucht. Zwischendurch unverständliche Selbstgespräche mit bedeutenden,
gedankenverlorenen Gesten geführt. Dann kauert die Runde um einen Käfer.
Jemand findet einen ganz besonderen Stein. Plötzlich kommt einer auf die
Idee, aus dem ausgewaschen Sand am Wegrand kleine Würstchen zu formen und
alle machen mit. Das dauert und dauert, aber keiner der Erzieher drängelt.
Es ist der Anblick eines überwältigenden Friedens und seltener Aufmerksamkeit.
Spaziergänger im Wald bleiben stehen - so viel Poesie! Die Geduld der Erzieher
ist einmalig. Die Kinder genießen ihre Eigenzeit. Es mag ja eine Selbstverständlichkeit
in dieser Krippe sein, dass niemand getrieben wird. Für den Beobachter ist
es irritierend: ein stundenlanges Unternehmen mit Kindern, ohne dass gemahnt oder
gequengelt würde. Am Ende dieser Langsamkeit wird eine beispiellose Leistung
stehen.
Nach einer Keks-Saft-Pause auf einem Baumstamm kommen im Wildpark die zehn Kinder
an. Bald ist Mittag. Eine Erzieherin ist mit dem Bus gefahren und wickelt einige
Kinder auf dem Boden neben Hängebauchschweinen, die von den anderen fleißig
gefüttert werden. Der anschließende Rundgang braucht seine Zeit. Mutig
lassen die Kinder Rehe aus der Hand fressen, gehen ins Fledermäuse-Haus,
streicheln Ziegen und sind von den Eulen beeindruckt. Die Kinder ziehen weiter
mit nicht nachlassender Aufmerksamkeit. Inzwischen ist es 14 Uhr.
Die Runde von zehn Kindern und die vier Erzieher sitzen am Bus mit den restlichen
Keksen, Saft und Gummibärchen. Hinter dem Bus wird wieder gewickelt. „Lasst
uns jetzt zurück gehen“, fordert Torsten Lübke, aber einige, entscheidet
er, fahren mit dem Bus. Vor zehn Jahren hat er erstmals eine kleine Wanderung
mit Kindern, die gerade Mal laufen konnten, gewagt. Er war überrascht, was
die Kinder können. Jedes Jahr traute er sich etwas weiter und immer wieder
wird er überrascht. Natürlich hat er im Blick, wem er was zutrauen kann.
Die Hälfte der Gruppe soll zurück fahren. Doch die kleine Antonia, gerade
mal zwei Jahre alt, will nicht in den Bus und besteht auf den Fußweg. Dann
also los. Tragen oder auf die Schulter nehmen ist ausgeschlossen. Um 16 Uhr 20
Uhr sind die Kinder am Haus - nach sechs Stunden und dreißig Minuten, ohne
lange Pausen. Aber nun schnell wieder Windeln wechseln und dann den Mittagsschlaf
nachholen. Abends wird gegrillt.
„Nach so einer Expedition“, erinnert sich Torsten Lübke, „ist
es jedes Mal dasselbe“. Einige Kinder, kaum zu Hause, wollen wieder ihre
Sachen packen: „in den Wald“, „Tiere“, „laufen“.
Jedenfalls sind sie alle einen Kopf größer geworden.
Solche Aktivitäten sind ganz im Sinne von Wolf Singer, dem Direktor im Frankfurter
Max-Planck-Institut für Hirnforschung. Die Kinder selbst haben auf ihrer
Expedition dauernd Entscheidungen getroffen, sie haben die Dinge untersucht, sich
ihren Reim drauf gemacht. "Wir haben dafür ein Wort", sagt er,
"Neugier oder Spieltrieb". Man hätte auch ohne Wissenschaft drauf
kommen können. Nun kann man es genauer erklären. "Das sich entwickelnde
Gehirn, ist als Selbstorganisationsprozess so angelegt, dass es sich die benötigten
Informationen zum richtigen Zeitpunkt aktiv sucht und holt."
Vielleicht erklärt die gelungene Selbstorganisation diese
kaum zu glaubende Gelassenheit im Wald. Von Singer stammt das Bonmot "Das
Gehirn hat keinen Vorstandsvorsitzenden". Es braucht keine Anweisungen. Auch
intern ist es nicht nach dem Prinzip Kommando und Ausführen, etwa nach dem
Modell eines souveränen Ichs, konstruiert, das sich selbst gewissermaßen
an Marionettenfäden führt. Im Gehirn findet ein dauerndes Gespräch
der unterschiedlichen Zentren miteinander statt, und die größte Leistung
seiner Selbstorganisation ist, all diese Stimmen zu synchronisieren. Werde der
Informationshunger des Gehirns adäquat gestillt, so Singer, "dann antwortet
das Kind mit Lächeln, Freude und Wohlbefinden, wird ihm die Anregung vorenthalten
oder zu viel hinein gestopft, zeigt es seine Frustration".
Wie lange galt doch Eltern und Erziehern diese Lust der Kinder als verdächtig
und der Widerstand als Herausforderung an die Erzieher, ihn zu brechen? Die Hirnforschung
argumentiert fast leidenschaftslos: Man kann nicht gegen das Gehirn anarbeiten.
"Man kann in ein sich entwickelndes Gehirn nichts hinein programmieren, wofür
es noch keine offenen Fenster gibt." Neben Freude ist die Aufmerksamkeit
eine zweites Kriterium: "Wenn keine Aufmerksamkeit für etwas aufgebracht
wird, dann kann man auch nichts lernen", sagt Wolf Singer.
Professor Gerd Schäfer von der Universität Köln leitet in Mülheim
ein ähnliches Projekt, eine Lernwerkstatt für Kindergärten. Hier
sollen Kinder zum ersten Forscherpraktikum ihres Lebens kommen. Er entdeckt, wie
wichtig der reiche Alltag für Kinder ist und wie nachhaltig seine Wirkung.
Während der Forschungsexpeditionen der Kinder in den Wald und der anschließenden
Beschäftigungen in der Lernwerkstatt, sagt Schäfer, entwickeln die Kinder
ihre eigene Zeitorientierung. "Das Kind findet hinein, kommt in eine Phase
hoher Konzentration und irgendwann sagt es, es ist genug. Schon die Kleinsten
suchen etwas, das sich lohnt überwunden zu werden. Sie wollen eine Herausforderung."
Das beginnt schon bei den allerkleinsten in der Wiege. "Sie halten regelrecht
Ausschau nach Neuem, und wenn sie es erforscht haben, suchen sie weiter."
Der Physiker und Philosoph Marco Wehr schlägt deshalb in seinem neuen Buch
Welche Farbe hat die Zeit - Wie Kinder uns zum Denken bringen (Eichborn Verlag)
vor, das irreführende Wort "Neugier" zu streichen und von "Neulust"
zu sprechen. Diese Forscherhaltung müssten viele Erwachsene wieder von den
Kindern lernen. Es gibt Gründe, die überkommene Lehr- und Lernordnung
zu überdenken. Sie wurde immer als Kommunikation in eine Richtung gedacht.
Von den lehrenden Erwachsenden hin zu den lernenden Kindern. In Wahrheit ist sie
doch wohl eher eine Wechselwirkung, ein gegenseitiges Anstecken mit der Neulust.
Kindheitsforscher Gerd Schäfer wird zornig, wenn er in Kindergärten
hört, na ja, nun müssten die Kinder etwas Naturwissenschaft lernen,
dann machen wir es halt spielerisch. "Das finde ich eine Entwürdigung
des Spiels, weil es nämlich den ganzen Ernst des Spieles missachtet und es
als trojanisches Pferd missbraucht." Die Kinder spürten diesen Betrug.
Wenn hingegen beim Entdecken und Forschen ihre Freude erregt wird, überraschen
die Kinder mit ihren Beobachtungen und Hypothesen. Erstaunlich noch eine weitere
Beobachtung von Schäfer und seinen Mitarbeitern: Die Kinder sind ruhig. Sie
können sich konzentrieren, selbst zappelige Kinder bleiben an ihrer Arbeit.
Schäfers Kollegin Gisela Lück von der Universität Bielefeld fand
bei Grundschülern heraus, dass 70 Prozent freiwillig und mit Freude an Experimenten
teilnehmen. "Noch nach Monaten können sie sich an Einzelheiten und an
die Deutung erinnern."
Nobelpreisträgerin Christiane Nüsslein-Volhard, Direktorin am Max-Planck-Institut
für Entwicklungsbiologie stimmt zu. Naturwissenschaftliche Curricula im Kindergarten
hält sie schlicht für Quatsch. Wenn sie an ihre Kindheit denkt, fällt
ihr die Mutter ein, eine begeisterte Kindergärtnerin, die alle Pflanzen,
die sie auf den Spaziergängen im Wald fanden, kannte. Was würde sie
einem Kindergarten außer Spaziergängen in den Wald vorschlagen? „Ich
würde mit Kindern kochen und ihnen erklären, wie die Luftblasen in der
Hefe entstehen und wie man Sachen auflöst und was Hitze bedeutet. Bei mir
gingen viele der Erkenntnisse, die mich zur Wissenschaft führten, übers
Essen."
Gisela Lück hat von ihren Mitarbeitern mehr als tausend Studierende im ersten
Semester Chemie fragen lassen, warum sie dieses schwierige Fach gewählt haben.
Zweiundzwanzig Prozent antworteten: "Weil ich als kleines Kind liebevoll
an Naturphänomene herangeführt worden bin." Hingegen bekamen nur
fünf Prozent der Befragen den Anstoß, Chemie zu studieren, in der Oberstufe
des Gymnasiums.
ZEIT online
23/2007